An meinen deutschen Freund – Ein Leserbrief

Am Montag erreichte uns einLeserbrief, der zu Herzen geht. Wir haben uns entschieden, ihn zu veröffentlichen:

 

Mohamad Wadeh
Ich danke dir für alles, wer du auch immer bist, ob du mich als Flüchtling liebst oder hasst, du kennst mich nicht und du hast Recht: ich bin seltsam für dich, ja, seltsam, vielleicht kannst du ja aus diesen Zeilen mehr über mich erfahren und besser verstehen, warum ich hier bin und wie es für mich ist, hier zu sein…Ich bin zweimal zum Flüchtling geworden: das erste Mal wegen der Besetzung von Palästina und das zweite Mal wegen des Krieges in Syrien. In den Gassen des Lagers bin ich geboren und dort bin ich auch aufgewachsen. Die israelische Besatzung hat mir die Heimat genommen, so bin ich heimatlos, immer nur ein Gast in irgendeinem Land. Ich wusste, dass meine Wurzeln in Tiberias in Palästina sind, aber ich habe die Stadt meiner Väter nicht gesehen, ich habe nicht in ihren Straßen gespielt und ich sah als Kind ihre Sonne nicht, und träumte doch jeden Tag davon, ihren Boden zu sichern …

Mein deutscher Freund,

ja, zugegeben, dein Land ist schön und man respektiert hier das Gesetz, in meiner Welt geschieht dies weniger, doch ist sie nicht weniger schön, ich könnte dir zum Beispiel über Palästina erzählen, über den Geschmack der Jaffa-Orangen, von dem meine Großeltern mir erzählt haben, über den Geruch des Brotes, das wir in der Asche buken, über die duftende Lorbeerseife aus Nablus, die Süße der Trauben aus Hebron, die Legenden vom Ghul, die Hochzeiten und unser ganzes kulturelles Erbe, und ich könnte dir auch über Syrien erzählen, könnte die Schönheit der alten Häuser beschreiben, den Berg Dschabal Qasyun, den Duft der Jasminblüten in den Straßen von Damaskus, der ältesten Hauptstadt der Welt, wo ich geboren wurde und das Alphabet lernte, könnte dir erzählen, wie es war und immer noch ist. Da habe ich jeden Abend die modernen Cafés verlassen und mich in die zärtlichen Arme der Altstadt oder meines geliebten Barada-Flusses begeben…

Man behandelt mich gut in deinem Land, ich merke, es gibt hier menschliche Werte, ich habe hier Sicherheit gefunden. Keine Bombe jagt meinen Kindern hier Schauer der Angst über den Rücken, wir darben nicht mehr wegen der Belagerung wie im Yarmouk-Lager, wo wir wie Tausende andere ein Jahr ohne ausreichendes Essen, ohne Strom oder Medizin verbrachten.

Mein Freund, wir sitzen hier oft und wärmen gute Erinnerungen auf, gleichzeitig versuchen wir jeden Tag vergeblich zu vergessen, ich könnte dir eine lange Liste von  verbannten, gefangenen und getöteten Freunden nennen, dir vom Schmerz des Exils erzählen, von den langsam verblassenden Erinnerungen, von dieser tiefen Traurigkeit in mir, so ohne einen einzigen wirklichen Freund…

Mein Freund,
du kannst natürlich nicht wissen (sehen), wie familiär und sozial wir sind, ich denke jeden Tag an meine Mutter, meine Nachbarn, …, die Sehnsucht nach dem vertrauten Leben schmerzt, vielleicht überrascht es dich, aber auch, wenn wir längst verheiratet und erwachsen sind, brauchen wir doch unsere Mütter und sie wiederum halten fest an ihrer lieben Gewohnheit, uns wie Kinder zu behandeln, uns beim Nachhause kommen zu fragen: „Warum kommt ihr so spät?“ O, wie wir das gute Essen bei der Mutter vermissen- niemand kocht wie sie… Und dann beschleicht uns die Angst, was wird, wenn wir für immer hierbleiben sollten?

Ja, mein Freund, wir haben alle ein Smartphone, wie sollten wir auch sonst Kontakt halten zu unseren Familien, aber beim Telefonieren kann ich meine Gefühle lange nicht so gut ausdrücken wie in einem wirklichen Gespräch… Unauslöschliche Sehnsucht brennt in mir, in uns allen hier in deinem Land. Ich brauche nichts weiter, ich fühle mich satt und sicher hier, ich brauche nur eins: mich hungert nach einem Heimatland, ich will mein Recht ausüben, mich auszudrücken, wählen zu gehen…, ich bin zu Tränen gerührt, wenn ich die palästinensische Fahne, die Fahne meines landlosen Landes sehe. Vielleicht hast du nicht erlebt, wie es ist, die Heimat zu verlieren, die Kälte des Exils zu fühlen…

Mein Freund, ich brauche nichts, ich brauche nur eine Heimat.

Mohamad Wadeh