Bund und Länder lassen syrische Flüchtlinge weiter im Stich

Schwerin, 4.11.2012

Gemeinsame Presseerklärung

Zur Innenministerkonferenz in Osnabrück:

Bund und Länder lassen syrische Flüchtlinge weiter im Stich

PRO ASYL und FLÜCHTLINGSRÄTE fordern großzügige Flüchtlingsaufnahme

Syrien brennt und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge durch Bund und Länder läuft mehr als schleppend. Nur wenige Personen konnten bisher einreisen. PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern bei einer Pressekonferenz in Hannover die Innenminister von Bund und Ländern auf, die sehr bürokratischen Aufnahmeregelungen einfacher zu gestalten und die Aufnahme deutlich auszuweiten.

Die Innenminister von Bund und Ländern waren sich einig, dass syrische Flüchtlinge in der Region dringend Unterstützung aus Europa brauchen. Doch zwischen den Worten der Hilfsbereitschaft und der Realität klafft eine Glaubwürdigkeitslücke.

Denn die Programme sind eng gestrickt:

In das Bundesaufnahmeprogramm können nur Flüchtlinge aufgenommen werden, die über den Libanon ausreisen, sich vor dem 31.3.2013 bei UNHCR haben registrieren lassen, ein kompliziertes Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen und schließlich noch das Glück haben, einen von wenigen tausend Plätzen zu erhalten.

Diese Engführung führt zu einem enormen Prüfungsaufwand, der das Verfahren unzumutbar in die Länge zieht. Keine Lösung sieht das Programm auch für KurdInnen und PalästinenserInnen vor, die ohne syrische Staatsangehörigkeit in Syrien gelebt haben.

Hinzu kommt, dass die Zahl von 5.000 Plätzen irreführend ist: Weit weniger Plätze sind tatsächlich verfügbar, weil zunächst solche Personen, denen die deutschen Botschaften im normalen Visumsverfahren keine Einreiseerlaubnis erteilt hatten, in das Kontingent gerechnet wurden. Von insgesamt nur rund 1.300 Personen, die seit dem Aufnahmebeschluss Ende Mai nach Deutschland kommen durften, sind gut die Hälfte solche „Botschaftsfälle“, die nun selbstständig und auf eigene Kosten eingereist sind. Für solche Flüchtlinge, die das aus eigener Kraft schaffen können, wäre eine großzügige Visaregelung gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG die schnellere und sinnvollere Lösung.

Um die begrenzte Wirkung wissend haben im September und Oktober 2013 alle Länder außer Bayern zusätzliche Länderaufnahmeregelungen für Verwandte von hier lebenden Syrer/innen verkündet. Doch auch die Aufnahmeprogramme der Länder sind falsch konstruiert. In der Praxis enthalten die Aufnahmeanordnungen verschiedene Hürden, unter anderem folgende:

· Sie deckeln die Zahl der Familienangehörigen durch ein Kontingent (Nordrhein-Westfalen auf 1.000, Baden-Württemberg auf 500, Saarland auf 62).

· Alle Landesregierungen fordern die Sicherung des Lebensunterhalts durch in Deutschland lebende Angehörige. Nur zögernd sehen die meisten Länder inzwischen ein, dass zumindest die Krankenkosten von den Ländern selbst abgesichert werden sollten.

Bislang schließen alle Länder KurdInnen und PalästinenserInnen ohne syrische Staatsangehörigkeit systematisch aus. Thüringen hat jetzt die Einbeziehung von ethnischen Minderheiten immerhin für denkbar erklärt.

· Bayern weigert sich bis jetzt eine Länderanordnung einzuführen.

Die Flüchtlingsorganisationen fordern drastische Verbesserungen bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen. Dazu gehören:

  • Die deutliche Erhöhung der Aufnahmezahl des Bundesprogramms, insbesondere auch für Kranke und Traumatisierte.
  • Die Berücksichtigung von ethnischen Minderheiten und Staatenlosen aus Syrien in allen Programmen.
  • Die Öffnung des Bundesprogramms für Flüchtlinge in allen Anrainerstaaten.
  • Der Familiennachzug darf nicht am Geld scheitern. Ein humanitärer Ansatz kann nicht allein von finanziellen Verpflichtungserklärungen für den gesamten Lebensunterhalt der Angehörigen abhängig gemacht werden.
  • Außerdem fordern wir die generelle Übernahme der Krankenkosten durch alle Länder und die Verlängerung der Antragsfristen.
  • Die regelmäßige Visumerteilung zur Familienzusammenführung auf Grundlage von
    § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz „zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte“.
  • Entbürokratisierung und Beschleunigung des Visumsverfahrens.
  • Erteilung von Vorabzustimmungen durch die zustimmungspflichtigen Ausländerbehörden.

Hintergrund:

Auf über 100.000 Tote schätzt die UNO die Zahl der Opfer in Syrien und klagt, dass es keine humanitären Korridore zur Versorgung der Zivilbevölkerung in Syrien gäbe. Dort irren inzwischen 4,25 Mio. interne Flüchtlinge ziellos umher. 2,1 Mio. haben sich ins Ausland geflüchtet:[1] 550.000 Menschen in Jordanien, 806.000 im Libanon, 500.000 in der Türkei, 126.000 in Ägypten und fast 200.000 syrische Lagerflüchtlinge im Irak. Mehr als eine Million Kinder sind vor dem Bürgerkrieg in Syrien in angrenzende Länder geflohen.

In den Lagern herrschen Menschenhandel, Zwangsrekrutierung unterschiedlicher Parteigänger des syrischen Kriegs und deren Kriegssteuereintreiber. Im Libanon brechen sich fast täglich Gewaltausbrüche zwischen sunnitischen und shiitischen Milizen Bahn. Eine steigende Suizidrate unter Flüchtlingen geht einher mit illegalem Organhandel. Mit Visumspflicht, Razzien und Ausweisungen bekämpft das Militärregime in Kairo die Flüchtlinge. In der Türkei sind Flüchtlinge i.d.R. dezentral horrenden Mietwucherungen oder gleich der Obdachlosigkeit anheimgestellt. Es herrschen Zwangsprostitution oder andere Sklavenarbeitsverhältnisse. Im Nordirak sind es vor allem Kurden, die Aufnahme gefunden haben. Doch dort herrschen Mangelernährung und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Gut 77% der Flüchtlinge in Nachbarstaaten Syriens sind Frauen und Kinder.

UNHCR meldet Ende November[2], dass 70.000 Flüchtlingsfamilien ohne Vater zurechtkommen müssen und 3.700 Kinder sind gänzlich auf sich allein gestellt oder wurden von beiden Eltern getrennt. Im Libanon wurden in der ersten Jahreshälfte 741 verwundete syrische Kinder behandelt. In Jordanien wurden im Camp Zaatari im letzten Jahr rund 1.000 Kinder mit Kriegsverletzungen versorgt. Mittlerweile gibt es 1,1 Millionen syrische Flüchtlingskinder, die meisten von ihnen in den Nachbarländern.

Die meisten syrischen Flüchtlinge haben entweder noch in der Heimat, auf dem an Gefahren reichen Fluchtweg oder im Exil massive Gewalt erlebt oder selbst dem Tod ins Auge gesehen. Sie müssen in ihrer Mehrheit als erheblich traumatisiert gelten.

Allein am 11. Oktober ertranken 200 syrische Flüchtlinge, die Hälfte Kinder, vor Lampedusa im Mittelmeer. Ihr Boot war gesunken, nachdem es von der libyschen Küstenwache beschossen worden war. Die italienischen Behörden hatten Notrufe stundenlang ignoriert.

Die ganze Presseerklärung finden Sie hier